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Das erste Wegstück in Richtung Issyk Kul, eines der größten Bergseen der Welt inmitten des kirgisischen Tien Shan, brachte uns dann auch bereits ordentlich ins Schwitzen. Drei Stunden Fußmarsch bergan, 350 Höhenmeter waren zu bewältigen, bevor es dunkel wurde. Für uns fünf Berliner Flachlandindianer war das bereits eine Herausforderung. Am ersten Tagesziel, dem Großen Almatinsker See in 2500 m Höhe, wurden wir bereits von Sprühregen und eiskaltem Gebirgswind begrüßt. Erste Zweifel ob unserer Enthaltsamkeit kamen auf als wir vergeblich versuchten, ein Feuer zu entfachen. Nein, hier musste der Gaskocher her. Nachdem die verregnete Dunkelheit sich über das Tal gelegt hatte, genossen wir endlich zufrieden unser Abendmahl aus Instant-Kartoffelbrei.

„Ihr seid spät dran“, sagte der kirgisische Jäger. „Normalerweise kommen so spät keine Wanderer mehr hier vorbei.“ Wie einem Roman von Tschingis Aitmatow entsprungen stand er nun vor uns. Mit sonnenverbranntem Gesicht, wachen Augen, in der abgewetzten Filzjoppe und mit uralter Flinte über der Schulter.

Wir hatten hier keine menschliche Seele mehr erwartet. In diesem sonnigen, aber bereits ziemlich ungemütlichen Bergtal in über 3000 m Höhe. Ein Tagesmarsch über einen windigen Pass, vorbei an bizarren schneebedeckten Bergriesen hatte uns hier hingeführt. Immer wieder schien uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung machen zu wollen. Mal Schnee, mal Regen. Doch der Abend brachte die Sonne, und die Nacht Minusgrade und Zähneklappern im viel zu dünnen Schlafsack.

Dies alles war unser Gegenüber offensichtlich gewohnt. Vom Issyk Kul sei er, habe sein ganzes Leben hier verbracht. Zufrieden rekelte er sich im Gras und tat sich eine doppelte Prise Nasybay unter die Zunge, die Droge der Bergnomaden und zentralasiatischen Dorfbewohner gleichermaßen.

Vor uns lag nun dieser fast überirdisch wirkende Bergsee Jasyl Köl. Tiefblau und lebensfeindlich. Dahinter der Gletscher, von dem eine kühle Brise wehte. Hier gönnten wir uns einen Imbiss aus Speck und Halva, nachdem wir im Lager der Kirgisen ausgiebig Tee getrunken hatten. Ihnen war bisher kein Jagdglück beschieden. Noch keine Ziege, kein Bergschaf hatten sie erlegt. „Auch wir gehen bald zurück, morgen oder übermorgen“, entschieden sie. Ihr Angebot, uns per Pferd bis zum nächsten über 4000 m hohen Pass zu bringen, schlugen wir dankend aus. Nur ungläubiges Grinsen brachten sie uns entgegen. Kein Kirgise würde jemals zu Fuß in die Berge gehen. So machten wir uns wieder auf den Weg. Am Abend schon wollten wir unterhalb des Gletschers unser nächstes Nachtlager aufschlagen.

Der kleine, schnell dahin fließende Gletscherfluss war zugefroren. Für das Teewasser musste zunächst mal ein Loch in die Eisdecke geschlagen werden. Leicht wankend nach der fast schlaflosen Nacht staunte ich nicht schlecht, als das Eis meinen Tritten kaum nachgab. Es war gerade sieben Uhr, und bevor die ersten diffusen Sonnenstrahlen das enge, mondgleiche Tal erreichen würden, sollten noch Stunden vergehen. Nach einigen Mühen hatte ich genug Wasser im Topf für unseren Frühstücksbrei und die Leben spendende Tasse Tee mit Milch.

Heute musste es schnell gehen. Eilig bauten wir die Zelte ab, und stopften die Lebensmittel in die Rucksäcke. Bevor die Sonne das Eis aufweichte, wollte wir den Gletscher überquert und den Aufstieg zum Pass begonnen haben. Unsere einzige Orientierungshilfe bildete eine Wanderkarte „made in USSR“ und einige Aufzeichnungen, die ich mir von einem leicht angetrunkenen Wandersgesellen im Vorfeld der Tour hatte geben lassen.

Schon bald standen wir in der Mitte der riesigen, gleißend hellen Eisfläche auf der sich bereits Rinnsale lustig plätschernd ihren Weg suchten. Irgendwo links musste unser Pfad den Berghang hinaufführen. Erst nach einiger Zeit erfolglosen Suchens machten wir ihn schließlich aus. Steil und vom frischen Pferdekot der kirgisischen Jägerstruppe drappiert führte er über Geröllhänge zum 4030 m hohen Ak-Suu-Pass, dem sturmgepeitschten Tor zum Issyk Kul.

Auf dem wankenden sowjetischen Pick-Up war kaum an Revue passieren lassen zu denken. An die Holzverschläge geklammert musste man sich jeden Augenblick konzentrieren, um nicht hinzufallen. Unsere neue Weggenossin, eine wohl genährte Großvieheinheit, die gefesselt zu unseren Füssen lag, hatte es da leichter. Allerdings schien ihr das nicht bewusst zu sein, denn sie entlud begleitet von einigen Versuchen, sich über die Schwerkraft hinwegzusetzen, Salven von Dung, die mit heftigen Schwanzschlägen großzügig auf Hosenbeine und Gepäck verteilt wurden. Vielleicht dachte sie aber bereits an ihr nahes Ende: Für die Bewirtung einer kirgisischen Hochzeitsgesellschaft sollte schon am Abend ihr Kopf rollen.

So ratterten wir von diesem tragischen Schicksalsvieh begleitet über die felsigen Pfade durchs Tal, vorbei an den ersten Hütten der Schafshirten, den ersten lichten Wäldern und letzten malerischen Gipfeln. Kurz vor der ersten festen Siedlung sprangen wir ab und reinigten unsere Sachen im Fluss. Sauber und ordentlich gekleidet, spazierten wir dann in eine fast mediterran wirkende Landschaft am Ufer des Issyk Kul, in der sich wie in einer Blase der Sommer hielt und von den zahlreichen Obstbäumen am Wegesrand strahlend rote Äpfel lockten. Nach vier Tagen Fußmarsch waren wir zurück in der Wärme, unter Menschen, und reif für Strandurlaub.

 

„Lernen, Lernen, und nochmals Lernen…“

 

Raichan apai war wieder einmal spät dran an diesem Herbstmorgen. Mehrfach entschuldigte sich bei uns. Der Berufsverkehr, der ganz Almaty allmorgendlich verstopfte, hatte auch der Zeitrechnung unserer Lehrerin einen Strich durch die Rechnung gemacht. Alle nickten ihre Worte ab. Jedem war diese Lage nur allzu bekannt.

Auch ich hatte wieder eine halbe Stunde im stickigen, zum Bersten mit Passagieren gefüllten Trolleybus verbracht. Voll verschwitzt wurde ich dann von den anderen Aussteigenden zurück auf den Asphalt gestoßen. Vor mir ein Anblick, für den sich jeden Morgen diese Tortur lohnt. Der in altrosa gehaltene, realsozialistische 15-Stocker meiner Universität und dahinter die schneebedeckten Drei- und Viertausender des Tien Shan im Sonnenlicht. Jeden Tag hielt ich hier einen Moment inne, genoss die Aussicht und spazierte dann gemächlich weiter. Spät dran waren hier sowieso die meisten.

Nun saß ich mit meinen „Mitschülern“ im „Klassenraum“ und paukte Kasachisch. Raichan apai tat ihr bestes, forderte uns zum Reden auf, Russisch sprechen war hier tabu. Letzteres hätte ohnehin keinen Nutzen, die lingua franca ist hier koreanisch. Sechs meiner sieben Kommilitonen kommen von dort und erhellen die Gemüter alltäglich mit fernöstlichen Scherzen und lauten Verdauungsgeräuschen.

„Mehr lesen müsst ihr zu Hause, euch ordentlich vorbereiten und täglich Vokabeln lernen. Nur so könnt ihr diese Sprache lernen.“ Unsere Lehrerin rief uns ins Gewissen. Unsere Unterrichtsvorbereitung ließ in der Tat zu wünschen übrig. Der Kontakt zur Sprache kam in Almaty aber auch des Öfteren abhanden. Nur wenige beherrschen die Sprache hier so gut wie russisch. In diesem inselartigen Grenzgebiet zwischen dem weiten kasachisch geprägten Süden und der russischen Stadtvergangenheit hat sich eine interessante sprachliche Mischform entwickelt. Gebräuchliche russische Wörter werden wie selbstverständlich in den kasachischen Sprachfluss eingewoben.

„Ich möchte nicht, dass ihr die Feinheiten des Kasachischen lernt. Aber ihr sollt verstehen und euch verständigen können“, beschrieb Raichan ihren Anspruch. Noch sieben Monate hat sie und haben wir, dieses Ziel zu verwirklichen.

 

12. Mikrorayon

 

Ein Jeep japanischer Herkunft hupt mich vom holprigen Asphalt. Mit nur geringfügig höherer Geschwindigkeit als ich fährt er an mir vorbei. Amerikanischer Rap dringt in voller Lautstärke aus den rundum schwarz getönten Fenstern.

Von der mobilen Lärmquelle gänzlich unbeeindruckt steht eine Babuschka am Wegesrand. Sie verkauft Sauerkraut, eingelegte Tomaten und eine krüppelige Yucca-Palme, um ihre Rente aufzubessern. Abends noch wird sie mit dem gleichen Angebot im feuchten Herbstwetter kauern.

Das kaufende Volk ist eher an Frischmilch interessiert, die jeden Morgen eine Ecke weiter geliefert wird. Familienväter verbinden den Morgenspaziergang mit dem Einkauf. Milchkannen schwingende Alte mit Kopftüchern stellen sich ebenfalls in die bereits bedenklich lange Schlange.

Am ersten Viergeschosser aus der Breshnew-Zeit steht angelehnt ein Sarg. Hier ist kürzlich eine alte Frau gestorben, das Begräbnis steht an. Kaum 50 m geradeaus sitzt eine Jugendgang auf einer Holzbank. Einige bereits mit Bierflasche in der Hand, alle rauchen, einer spielt schief auf einer Gitarre. Jugendkultur spielt sich auf der Straße ab.

Genau wie die Wäschetrocknung. Keine Notiz nimmt hiervon wiederum der Straßenfeger, der den Weg vom reichlichen Laub befreit und dabei ordentlich Staub aufwirbelt. Vor einem Fenster des vierten Geschosses steht jetzt der Gitarrenspieler und fordert Bolat durch lautes Rufen auf, hinunter zu kommen. Bolat schläft wohl noch, denn er reagiert erst spät. Türklingeln werden hier vielfach nur zur Zierde angebracht. Ebenfalls von dekorativem Charakter sind Briefkästen und Mülltonnen.

Am Eingang meines Hauses erwartet mich meine Nachbarin, eine stramme Mitfünfzigerin sowjetischer Bauart mit hoch toupierten Haaren. Auch sie vertraut nicht auf die Diskretion der Briefkästen und reicht mir meine Betriebskostenquittung. Nicht jedoch ohne einen neugierigen Blick darauf geworfen zu haben.

Der röhrende Kühlschrank hinter meiner Wohnungstür reißt mich aus den Gedanken, als ich die Treppe hinaufsteige. Ich bin zu Hause angekommen….