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Am nächsten Morgen flog das östliche Polen am Fenster vorbei. Letzte Regentropfen über Lublin. Dahinter wieder kleinteilige Felder, einzelne Gehöfte und Dörfer in dichtem, sommerlichen Grün. Dann Chelm, später die Grenze zur Ukraine. Eine gedachte, keine natürliche. Dahinter das gleiche Landschaftsbild. Die Landbevölkerung holt die Ernte ein. Die kleinen Siedlungen aus Holzhäuschen strahlen eine uralte Ruhe aus, und an den Obstbäumen reifen die Früchte des Sommers. Dazwischen grasen die Gänse und recken die Köpfe nach dem vorbeiholpernden Zug.

Ich stehe am Fenster mit Alexej, der zusammen mit seinem Sohn zu Freunden nach Lugansk unterwegs ist. Seit 15 Jahren lebt er bereits in Deutschland. 1989 hatte er als Spätaussiedler die Einreiseerlaubnis bekommen und war mit der ganzen Familie aus dem usbekischen Ferganatal nach Bremen gekommen. In gebrochenem Deutsch erzählt er von damals, von den Bewohnern der abgelegenen Dörfer Usbekistans, aber auch von der Armee und der korrumpierten Baumwollwirtschaft, in die die ganze Bevölkerung eingespannt war. „Sich in Deutschland zu Hause einzuleben brauchte Zeit. Die Umstellung war für alle nicht leicht. Am ehesten noch für die Kinder“, meint Alexej. Die hätten sehr schnell deutsch gelernt, und später gute Jobs bekommen. Für ihn und seine Frau sei es da schwieriger gewesen, gibt er mit bitterem Unterton zu.

An Bord des Zuges wurde die Anonymität des Reisens schnell aufgehoben. Der Waggon hatte schon nach wenigen Stunden ein Gesicht bekommen, eine Art mobile Wohngemeinschaft, die schon am Abend wieder in ihre Einzelteile zerfiel. Jeder ging seiner Wege. Meiner führte über Moskau nach Irkutsk, zum Wanderwegebau an den Baikalsee und weiter nach Zentralasien.

Schon vorher hatte man uns gewarnt. Im Khamal-Daban-Gebirge fällt mehr Regen als sonst wo in Sibirien. Jetzt saßen wir fest am Flüsschen Osinovka, auf unserem Biwakplatz nahe der Winterhütte. Trockenen Fußes waren wir zwar noch hierher gekommen, hatten Werkzeug und Vorräte in Rucksäcken den schmalen Pfad von der Hängebrücke an bergauf getragen, immer an den dicht bewaldeten Hängen entlang. Doch nun hatte sich das der imposante Anblick auf die Berge am Horizont gewandelt. Der schwülen Hitze des Ankunftstages, die keine Stirn trocken ließ und so einigen einen Sonnenbrand bescherte, war ein neblig-feuchter Morgen mit reichlich Nass von oben gefolgt. Das Feuer, dass uns noch munter flackert ein heißes Abendessen beschert hatte, musste jetzt mühsam am Leben erhalten werden. An Arbeiten war nicht zu denken, der Weg weiter ins Gebirge hatte sich in eine schlammige Furt verwandelt. So tauschten wir den ungemütlichen Treffpunkt unter freiem Himmel bald wieder gegen unseren molligen Schlafsäcke ein.

Wenn Roman redet, muss man selbst als guter Russisch-Sprecher sehr genau hinhören. In seinem Schwall verschwindet so manches Wort in vollständiger Unkenntlichkeit. Doch Roman verfügt über ein gewisses Charisma, obwohl erst 19, und noch Student an der Fakultät für Chemie der Irkutsker Universität. Zusammen mit Wanja leitet er unsere russisch-deutsche Gruppe an, koordiniert die Arbeit an diesem Abschnitt des Baikal-umspannenden Wanderwegprojektes. Bei Fertigstellung soll der Pfad 1800 km lang sein, und eine nachhaltige touristische Nutzung der Region unterstützen. „Dieses Gebiet hier gehört zu den interessantesten am südöstlichen Ufer des Baikals“, erklärt Roman. Das hänge mit den vielen Niederschlägen zusammen, viele Pflanzen und Tiere kämen deshalb nur hier vor. Dem wurde schon in den 1960er Jahren durch die Einrichtung eines Nationalparks Rechnung getragen.

Roman ist nicht zum ersten Mal im Khamal Daban unterwegs. Häufiger kommt er mit Trekkinggruppen in die Berge, auch im Winter, wenn Schneehöhen von zwei Metern keine Seltenheit darstellen. „Erst vor ein paar Tagen bin ich von einer Tour heimgekehrt. Aber es zieht mich immer wieder hierher“, berichtet er und marschiert wie ein Double der russischen Version von Winnie Puh weiter schnellen Schrittes bergan.

Erneut wurden wir vom trommelnden Regen geweckt, der sich wie eine Decke über das Tal gelegt hatte. Die Wolken streiften fast die Baumspitzen und das hohe Gras triefte vor Nässe. Mit Birkenrinde wurde das Feuer beheizt, auf dem das Teewasser und der Morgenbrei zum Kochen aufgehängt waren. Das letzte Brot lag fertig geschnitten auf dem grob gezimmerten Tisch. Heute würde Wowa und ich ins Tal gehen, um im Dorf neue Lebensmittel einzukaufen. Es regnete ohne Unterlass.

Wowa heißt eigentlich Wladimir und ist in der Nationalparkverwaltung beschäftigt. Fast noch jugendlich wirkt er, der 20jährige mit dem verschmitzten Gesicht und der ständig rauchenden Zigarette. Der mit Sandalen durch die Berge läuft und am liebsten mit der Kettensäge hantiert.

Sein Leben hat eine schwierige Richtung genommen. Im Waisenhaus aufgewachsen, war er mit 18 zur Armee gegangen. Im Kaukasus stationiert wurde er auch in Tschetschenien eingesetzt. In den Bergen südlich von Grosnij. Bei einem Angriff hatte er Glück im Unglück. Von einer schweren Gehirnerschütterung erholte er sich in einem Militärkrankenhaus in Krasnodar. Vor sechs Monaten kehrte er in seine Heimat, die kleine Bahnstation Tan-Khoj am Ufer des Baikal, zurück.

Nun sprang er schnellen Schrittes vor mir durch die tiefen Pfützen, in einem schweren ABC-Schutzanzug, der ihm als Regenjacke diente und sang, schief wie immer, Lieder aus seiner Militärzeit. Nur manchmal drehte er sich um und grinste mir zu. Ich musste lächeln, über Wladimir mit dem harten Schicksal. Der noch so jung schien.