Zentralasien/Kaukasien
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Mit der Marschrutka über das Dach der Welt
Der Pamir gilt neben Tibet zu Recht als "Dach der Welt". Hier befinden sich einige
der gewaltigsten Bergmassive der Erde, deren Pässe nicht selten über 4000 Meter liegen.
Quer durch das schwindelerregende Felslabyrinth windet sich eine der großartigsten
Gebirgsstraßen - die Trans-Pamir-Chaussee. In den 30er Jahren in nahezu purer Handarbeit
aus dem Berg gehauen, verbindet sie heute die zwei ehemaligen Sowjetrepubliken Kirgisien
und Tadschikistan. Eine himmlische Reise am Abgrund entlang.
Um sechs Uhr morgens
schläft Osch noch. Am Ostende des fruchtbaren Ferghana-Tals gelegen, im Länderviereck von
Kirgisien, Usbekistan, Tadschikistan und China, ist Osch mit rund 200.000 Einwohnern die
zweitgrößte Stadt der kleinen zentralasiatischen Gebirgsrepublik Kirgisien. Der kleine,
aber markante Suleiman-Berg, der mitten aus der Stadt ragt, strahlt in der Morgensonne.
Der quirlige Basar, tagsüber der Lebensnerv der Stadt, wird um diese Uhrzeit allenfalls
von Straßenfegern besucht. Wenige Stunden später bestimmen hier weißbärtige Greise in
langen Mänteln und Verkäuferinnen in bunten Gewändern das Geschehen. Berge von duftenden
Honigmelonen und Pfirsichen neben chinesischen Billigwaren und überlagerten Arzneimitteln
werden dann den Käufern feil geboten.
Auch Reisende, die sich auf die lange Reise über den Pamir Richtung Duschanbe aufmachen,
müssen früh aufstehen. "Setzt euch dahinten in die Ecke", befiehlt der Fahrer des in die
Tage gekommenen Mercedes-Kleinbusses barsch. Schon bald sind alle Sitzplätze und Zwischenräume
des Gefährts mit Menschen und Gepäck belegt. Nur der hartnäckige Straßenstaub findet noch
winzige Lücken, um ins Innere vorzudringen. Auf den Nachbarsitz hat sich Aidarbek Moldagalijew
gequetscht, Lehrkraft für Physik an der Oscher Universität und seines Zeichens Hobbyhistoriker.
Schon bald ist der Mittdreißiger in seinem Redefluss kaum mehr zu bremsen und versorgt uns
mit allerhand lokalen Anekdoten und Legenden. Sein Gesicht wird ernst, als er auf die Basmatschi
zu sprechen kommt, eine radikal-islamische Rebellengruppierung, die hier bis in die 30er Jahre
gegen die Russen und die Errichtung der Sowjetmacht kämpfte. "Heute ist Kirgisien unabhängig
und wird trotz aller Schwierigkeiten seinen Weg finden", sagt Aidarbek mit Blick auf die
ständigen politischen Unruhen in dem bitterarmen Land. Seit der Tulpenrevolution, als der
alte Präsident und sein Klan nach den angeblich gefälschten Parlamentswahlen im Frühjahr 2005
aus ihren Ämtern gejagt wurden, geht es drunter und drüber. In Osch, im südlichen Kirgisien,
kommt es zudem immer wieder zu ethnischen Spannungen zwischen Usbeken und Kirgisen. Zudem hat
der Islam in diesem Landesteil während der Sowjetherrschaft seine starken Wurzeln in der
Gesellschaft bewahren können, was sich Fundamentalisten in den schwierigen Zeiten zu Nutze
machen versuchen.
In Sary-Tasch, dem maroden Grenzort zu Tadschikistan, werden andere Kämpfe ausgetragen.
Alkoholisierte Dorfbewohner tyrannisieren nicht minder betrunkene Grenzsoldaten. Bahadir
Isahodschajew schaut nur mitleidig zu ihnen herüber. Er muss seinen überladenen LKW russischer
Produktion wieder flott kriegen, bevor die Ladung aus Tomaten, Möhren und Wassermelonen verdirbt.
Nur zum Mittagessen gönnt er sich eine kurze Pause.
"Seit mehr als 28 Jahren fahre ich die Trans-Pamir-Chaussee von Osch nach Murgab und weiter nach
Duschanbe", schüttelt Bahadir den Kopf, "aber heute kommt es mir schon hoch, wenn ich nur an die
Trasse denke." Und seine Frau Aziza stimmt ihm zu. "Jeder muss hier sehen, wo er bleibt. Ob nun
die Händler, die die abgelegene Region mit Lebensmitteln und Schmuggelwaren versorgen, oder die
Zollbeamten, die allerorten Schmiergeld fordern."
Auf dem Dach der Welt herrscht das Recht des Stärkeren: Am kirgisischen Grenzposten mit Blick auf
das 7 134 Meter hohe Massiv des Pik Lenin will man unsere Pässe einbehalten, Endstation im Nichts.
Nur energische Gegenrede macht die jungen Grenzer nachgiebig.
Prustend quält sich der alte Laster den mehr als 4 200 Meter hohen Grenzpass nach Tadschikistan hinauf.
Die Chaussee ist alles andere als eine Autobahn. Mit dem englischen Namen "Pamir-Highway" muss wohl vor
allem die Meereshöhe gemeint sein: Links und rechts tiefe Schluchten, reißende Flüsse, die Teile der
Fahrbahn weggespült haben. Alle zehn Minuten heißt es anhalten und Kühlwasser nachschenken. Für 20
Kilometer brauchen wir zwei Stunden. Aufatmen, als es auf Asphalt weitergeht. Es dämmert bereits,
als wir den sturmgepeitschten Karakulsee erreichen, den höchst gelegensten Salzsee Zentralasiens,
umgeben von schneebedeckten Gipfeln und nur wenige Hundert Meter von der chinesischen Grenze entfernt.
Weitere Stunden des Bangens auf der prekären Straße vergehen bis zur kleinen Kreisstadt Murgab.
Murgab ist abgelegen, 417 Kilometer entfernt von Osch, über 800 Kilometer weit weg von der
tadschikischen Hauptstadt Duschanbe, aber in gewisser Weise auch ein Zentrum. Für Wilderer zum
Beispiel, die Jagd auf Schneeleoparden und Marco-Polo-Schafe machen, oder für die Ernte von Teresken,
einer Zwergstrauchart, die zum Kochen und Heizen rege Verwendung findet. Die Hänge um den 6000-Seelen-Ort
sind bereits leergeerntet und damit der Erosion überlassen.
Kaum zu glauben: In dieser abgelegenen Bergregion bemühen sich unzählige internationale
Organisationen um Notversorgung und Ressourcenschutz der isolierten Gegend. Auch die
deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) betreibt im nahegelegenen Chorog,
der Hauptstadt der Autonomen Region Berg-Badachschan, ein Büro und einige Pilotprojekte.
André Fabian, ein junger deutscher Entwicklungshelfer, beschreibt die Lage drastisch:
"Wenn es die Trans-Pamir-Chaussee nicht gäbe, wäre das hier wie Afghanistan. Den Leuten
fehlt nicht nur das Wissen darum, wie man mit Rohstoffen sorgsam umgeht, sie haben auch
ihre angestammten Wirtschaftssysteme teilweise aufgegeben. Bildung ist hier ein riesiges Problem."
Der Unterschied zwischen tadschikischem und afghanischem Pamir wird einem schlagartig bewusst,
wenn man entlang des reißenden Pandsch-Flusses weiter Richtung Duschanbe fährt. Nur einen
Steinwurf über den Fluss auf dem afghanischen Ufer liegt hier die Vergangenheit: ohne Maschinen,
Elektrizität und Fernsehen. Während auf tadschikischer Seite die neuen Jeeps der
Hilfsorganisationen über den von Nuss- und Feigenbäume beschatteten Asphalt rasen,
zieht sich auf afghanischer Seite nur ein Trampelpfad den steilen Fels entlang.
Wo der Hang fast senkrecht in die braunen Fluten abfällt, wurden Baumstämme ins
Gestein geschlagen, und auch die afghanischen Reisenden schicken lieber ihre schwer
beladenen Esel auf die waghalsigen Gerüste, bevor sie selbst einen Schritt darauf setzen.
Wenige Kilometer weiter liegen Zeugen der jüngsten tadschikischen Geschichte im
knöcheltiefen Staub am Straßenrand, als wollten sie daran erinnern, warum das Land
selbst zu den 30 ärmsten der Erde zählt: Bürgerkriegspanzer, ein abgeschossener
Hubschrauber und Achtung-Minen-Schilder. Vor zehn Jahren kämpften hier islamische
Gruppierungen gegen Regierungstruppen. Heute wirbeln Schafherden den Staub zwischen
den verbliebenen Asphaltresten auf. André hupt sie beiseite, er hat es eilig. Weg von
der Straße, vom Überhang, aus dem sich immer wieder Brocken lösen. Schnell nach Duschanbe.
Erschienen
in Moskauer Deutsche Zeitung, 05.10.2006
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