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Schuld sind »die an der Spitze«

 

»Unser Land ist reich an Kultur, Geschichte und Tugend. Doch es fehlt die Kraft, dieses Potenzial auszuschöpfen«, sagt der georgische Schriftsteller Otar Tschiladse über seine Heimat.


Eine Stadt im vollen Verständnis von Dunkelheit, denke ich, als ich um vier Uhr morgens vom Flughafen kommend durch das Zentrum Tbilissis fahre. Auch der Griff zum Lichtschalter bringt keine Erhellung. Nur Kerzen, vorsichtshalber an allen wichtigen Punkten der Wohnung parat, spenden fahlen Schein. Aus der randvollen Badewanne schöpfe ich etwas Wasser für den Tee, glücklicherweise gibt es wenigstens Gas.
Wie so vieles in der »Nachkriegsgesellschaft« Georgiens werden die Ursachen für die Energiekrise auf den Zentralismus der Sowjetära zurückgeführt. »Es wurde schlichtweg versäumt, die eigenen Ressourcen zu erforschen. Energieträger und Strom wurden aus den Nachbarrepubliken importiert. Georgien birgt enorme Potenziale im Energiesektor, allen voran im Hinblick auf regenerative Quellen wie die Hydroenergie, doch für deren Erschließung und Nutzung fehlt das Geld«, erklärt mir Emil Adelkhanow, der im Kaukasischen Institut für Frieden, Demokratie und Entwicklung beschäftigt ist.
Wie kaum ein anderer beherrscht Emil das Fach des politischen Philosophierens. Das gesellschaftliche Geschehen Georgiens verfolgt er, seitdem er Ende der 50er Jahre nach Tbilissi kam. Geboren wurde er in einem Lager im sibirischen Workuta, wo sich sein Vater jüdischer Abstammung und seine Mutter, eine Türkisch-Armenierin, kennen gelernt hatten.
Schon in Studentenzeiten engagierte sich Emil in oppositionellen Kreisen, versorgte Dissidenten in Sibirien mit Literatur und Lebensmitteln, klebte Plakate gegen das »Regime«. An seiner widerständigen Haltung hat sich bis heute nichts geändert. »Im autoritären, korrupten, nennen wir es halbdemokratischen System von heute gibt es genügend Ansatzpunkte für tief greifende Kritik.«
Der kleine Mann mit der starken Zigarette im Mundwinkel lebt im Gedenken an seine Mutter und in einer Lebensrealität, die er zynisch in Frage stellt, ohne allzu oft eine Antwort zu bekommen. Seine Frau hat ihm die sprichwörtliche Pistole auf die Brust gesetzt: »Entweder wir ziehen von hier weg oder ich verliere den Verstand.« Seine 18-jährige Tochter würde Emil gerne zum Studium nach Moskau schicken, doch ohne bezahlten Job und jedwede finanzielle Unterstützung bleibt auch dieser Wunsch eine Illusion. So lässt die Wirklichkeit dem überzeugten Menschenrechtler nur sein Engagement in der kriegszerrütteten Kaukasusrepublik, seine geistige Energie und hin und wieder ein gutes Buch.
Vom einstmals elitären Stadtbezirk Sololaki, in dessen prunkvolle, heute reichlich heruntergekommene Jugendstilbauten europäischer Prägung mit spielerischer Leichtigkeit kaukasische Elemente Einzug fanden, spaziere ich bergab zum Rustaweli-Prospekt, der Flaniermeile Tbilissis. Unter mächtigen Platanen wälzt sich dort der Autoverkehr in Richtung Osten. Auf dem Weg passiere ich das Regierungsgebäude, gleichzeitig der Amtssitz von Präsident Eduard Schewardnadse. Ein hoher Zaun trennt zwei Welten: Auf der einen Seite um Kleingeld bettelnde Alte, auf der anderen die noblen schwarzen Geländewagen der Leibgarde, ein wertvolles Geschenk aus Deutschland.
Nebenan hat im »Theater der Unabhängigkeit«, einer Off-Bühne mit überwiegend studentischem Publikum, ein neues Stück Premiere. Es geht um Jugendliche, die Ende der 80er Jahre durch eine Flugzeugentführung aus dem »Völkergefängnis« ausbrechen wollten. Einer wagte das Unternehmen, wurde jedoch zur Aufgabe gezwungen und erschossen. Gemimte Vergangenheitsbewältigung in einer skurrilen Gegenwart.
In der kommen auch andere Fahrzeuge aus Deutschland vor: Kleinbusse aus zweiter Hand, die hier als öffentliche Verkehrsmittel Verwendung finden. So trete ich meine Fahrt ans andere Ende der Stadt mit einem ehemaligen Rettungswagen an. Im Strom der Blechlawine passieren wir Mode-Geschäfte und Spielcasinos, jugendliche Spaziergänger, havarierte Trolleybusse und das Hotel »Iveria«, eine der berühmtesten südkaukasischen Flüchtlingsherbergen. Am zu groß geratenen Majakowski-Denkmal, dem niemand Beachtung schenkt, steige ich aus.
Auch die Frau, die Frischmilch und Mazoni, eine Art georgischen Kefir, feilbietet, zieht ohne einen Blick auf das Dichterstandbild zum nächsten Häuserblock. Auf Hinterhöfen stehen wilde Garagenkonstruktionen, nebenan spielen alte Männer Domino und Hühner scharren nach Nahrung. In einem der zu Chrustschows Zeiten errichteten Blocks, die mittlerweile durch Anbau von Erkern und Balkons wohl die doppelte Wohnfläche erreicht haben, wohnen Soja und ihr Sohn Lewan. Die eigentlich schon pensionierte Dame arbeitet in einem mit niederländischen Mitteln unterstützten Projekt, das sich der medizinischen Pflege alter und behinderter Menschen widmet. Zu ihren Patienten gehört auch der an Multipler Sklerose erkrankte Lewan, der – unfähig, Arme und Beine zu bewegen – die Wohnung bereits seit Jahren nicht verlassen hat. Von 28 Lari Rente (etwa 14 Euro) könnte die Familie ohne den Verdienst der Mutter nicht überleben. »In Georgien bin ich geboren, aufgewachsen und ergraut«, sagt Soja spöttisch. »Meine Eltern waren Russen, doch die Muttersprache, die Kultur zu jedem Zeitpunkt meines Lebens war georgisch.« Schuld an ihrer persönlichen Misere und der allgemeinen Notlage des Landes seien »die an der Spitze des Staates«, sagt sie, um nicht das Wort Regierung benutzen zu müssen, das Soja für nicht zutreffend hält. Lieber spricht sie von einer Verbrecherbande, ohne jedoch zu verschweigen, dass sie auch dem Einfluss des mächtigen russischen Nachbarn eine Rolle zuschreibt.
Als Ende Februar die Meldung von USA-Eliteeinheiten im georgischen Pankisi-Tal direkt an der russischen (tschetschenischen) Südgrenze die Runde machte, erhob sich in russischen Medien ein Sturm der Entrüstung. Dementis aus Washington und Tbilissi folgten: Nur eine Handvoll Offiziere solle Einheiten der georgischen Streitkräfte im Anti-Terror-Kampf ausbilden. Das Pankisi-Tal gilt zwar gemeinhin als Hort des Verbrechens, als »Schulungslager für den internationalen Terrorismus«, es sei aber nicht Zielgebiet einer militärischen Operation. Mit den Worten »Die Präsenz amerikanischer Soldaten in Georgien ist keine Tragödie und wird es auch in Zukunft nicht sein«, zog sich Russlands Präsident Putin aus der Diskussion zurück. Die georgische Öffentlichkeit reagierte teils unschlüssig, teils gelassen. Großen Teilen der Bevölkerung sind US-Amerikaner im Tschetschenen-Tal lieber als russische Soldaten, die in Abchasien den so genannten Frieden schützen und nach landläufiger Meinung die Lage eher zuspitzen als stabilisieren. »Wir müssen aus der russischen Einflusszone«, glaubt auch Soja, »und hinein in das amerikanisch-europäische Sicherheitssystem.«
Tatsächlich meinen viele in der kleinen Kaukasusrepublik, ein ferner Verbündeter sei immer besser als ein direkter Nachbar. Außerdem: »Von Norden kam nie Gutes, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern«.
Als am 25. April in Tbilissi der Boden erzitterte, handelte es sich für die meisten um ein stärkeres, für die seismisch aktive Region des Kaukasus aber nicht ungewöhnliches Erdbeben. Die Erdstöße hatten eine Stärke von 4,8 auf der Richter-Skala, das Epizentrum lag 10 bis 12 Kilometer außerhalb der georgischen Hauptstadt. In den älteren Stadtteilen wurden mehrere Hundert ohnehin fast abrissreife Häuser beschädigt, einige davon wurden stark in Mitleidenschaft gezogen. Die Behörden registrierten fünf Tote, 30 Menschen wurden teils schwer verletzt.
Kaum hatte sich die erste Panik gelegt, äußerten einige nationalistische Politiker ernsthaft die Behauptung, das Beben sei von den Russen verursacht worden, die Georgien im wahrsten Sinne des Wortes destabilisieren wollten. Die absurde These stützte sie darauf, dass die russischen Streitkräfte im abchasischen Gudauri eine Teststation für seismische Waffen unterhielten. Kontrollierte Versuche mit derartigen Waffensystemen seien bereits in den 70er Jahren in den Bergen Kirgisstans durchgeführt worden.
So abwegig dies auch sein mag, in der Polemik führender georgischer Politiker tauchen des öfteren haltlose Beschuldigungen gegen die russische Regierung auf. Abgesehen davon dürfte Georgiens nördlicher Nachbar an vielen Entwicklungen der vergangenen elf Jahre nicht ganz unbeteiligt gewesen sein. Doch Emil warnt vor voreiligen Schlüssen: »Russland als Sündenbock vorzuschieben führt auch zur Verschleierung der eigenen Handlungslosigkeit.«

 

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