Zentralasien/Kaukasien
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Meeresbriesen an der Seidenstraße
An den Ufern des zentralasiatischen Issyk Kul-Sees verschwimmen die Grenzen von Strand-,
Natur- und Kultururlaub.
Nikolai Ljubemzow
ist die kirgisische Version von Asterix, dem Gallier. Der rührige Mann mit dem blonden Schnauzbart
eilt durch seinen üppigen Obst- und Gemüsegarten. Nachdenklich prüft er hier etwas und kostet dort
etwas. Anlass gibt es genug. Die Apfelbäume hängen voll duftender Früchte enormer Größe. Goldgelbe
Marillen leuchten in der Sonne. Darunter Dahlienstauden, Margeriten und Rosen. Tausende Bienen summen
um Nikolais Imkerwagen herum.
„In den 1970er-Jahren bin ich zum ersten Mal für Bodenuntersuchungen hergekommen und später für immer
geblieben“, lächelt der ehemalige Geologe zufrieden. „Das Klima am Issyk Kul ist einzigartig, die
Luftfeuchtigkeit immer niedrig. Schnee fällt im Winter so gut wie nie.“ Dazu käme das saubere Quellwasser
aus den Bergen, und die atemberaubende Landschaft um den See herum. „Für ihn als Asthmatiker ist das Leben
hier ideal“, ergänzt Nikolais Frau Galina.
Heiße Quellen sprudeln
Das kleine Paradies der „Aussteiger“ ist inzwischen zum Geheimtipp avanciert. Bis nach Deutschland, in die
Schweiz und sogar nach Afrika hat sich die Kunde vom Biogarten am Südufer des Issyk Kul-Sees in der
zentralasiatischen Gebirgsrepublik Kirgisistan an Chinas Westflanke verbreitet.
Seit einigen Jahren nehmen mehr und mehr westliche Touristen die beschwerliche Reise über Schlaglochpisten in Kauf,
um hier Urlaub zu machen. Nikolai hat ein paar kleine Ferienzimmer angebaut, die im Sommer fast immer belegt sind.
Verköstigt werden die Touristen mit biologisch erzeugten Lebensmitteln aus dem eigenen Garten. Eine weitere
Einkommensquelle ist der Honig, aus dem eine Art Schnaps gebrannt und – unter Nutzung eines Geheimrezepts –
eine Art Potenzmittel hergestellt wird. „Die männlichen Gäste über 40 schwören darauf“, lächelt Nikolai.
Die größte Attraktion im kleinen Dorf Tamga ist und bleibt jedoch der Issyk Kul – deutsch „heißer See.“ Warme Quellen
am Seegrund und der leichte Salzgehalt sorgen dafür, dass er auch im Winter nicht zufriert. Die riesige Wasserfläche
des nach dem südamerikanischen Titicacasee zweitgrößten Hochgebirgssees der Erde erstreckt sich fast bis zum Horizont.
Nur schemenhaft sind die über 4000 m hohen Gipfel am anderen Ufer erkennbar. Wenn ab Mittag die ersten Wolken über dem
tiefblauen Gewässer auftauchen, fühlt man sich in den Roman „Der weiße Dampfer“ des kirgisischen Schriftstellers
Tschingis Aitmatow versetzt. Ein kleiner Junge lernt dort über seinen Großvater die Mythen der Kirgisen kennen.
In seiner Traumwelt möchte er zu einem imaginären weißen Dampfer auf dem Issyk Kul schwimmen, an dessen Bord er
seinen Vater vermutet.
Marat Torysbekow begleitet als Fremdenführer Ausflüge zu Pferd ins wilde Hinterland des Issyk Kul. An einer schwierigen
Wegstrecke mit Blick auf die Gletscher des Tien-Schan-Gebirges macht er Halt. An einem Felsblock sind tibetische Reliefs
erhalten geblieben. „Viele Menschen mit unterschiedlichen Sprachen sind hier vorbeigezogen“, sagt der junge Kirgise. Der
Name des Nachbardorfes Barskoon gehe zum Beispiel auf Alexander den Großen zurück. Der Mazedonier habe hier auf dem Weg
nach China adlige persische Gefangene angesiedelt. Die Einheimischen nannten diese Barskhan, Herrscher Persiens.
Ihre Spuren haben nicht nur Völker des Altertums hinterlassen, als am Südufer des Sees zeitweise einzelne Routen des
Seidenstraßensystems entlangführten. Gegenwärtiger ist die Sowjetära. Gesichtslose Bettenburgen wuchsen in den 1970er-Jahren
am Seeufer in den Himmel. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR verwaisten die überdimensionierten Komplexe, nur am besser
erschlossenen Nordufer reiht sich auch heute eine Pension an die nächste. Von Juni bis August herrscht Hochsaison, viele
Großstadtbewohner aus dem benachbarten Kasachstan schätzen die feinsandigen Strände und das glasklare Wasser.
Über dem Eingangstor des bereits 1932 eröffneten, ehemaligen Sanatoriums der Roten Armee in Tamga am Südufer des Sees,
prangen noch Hammer und Sichel. Im Park hingegen grasen magere Kühe. Die Hecken und Obstbäume sind verwildert, die Gebäude
verfallen. Einheimische nützen das Gelände für Abstecher. Auch Toktokul Mirsabekow trottet auf seiner täglichen Runde zum
Strand seines Weges. „Noch vor zwanzig Jahren kamen viele Urlauber her“, erinnert sich der Rentner. „Mit der Unabhängigkeit
Kirgistans wurden es dann immer weniger.“ Erst in den letzten Jahre würden die Zahlen wieder steigen. Toktokul atmet tief
durch, seine Alkoholfahne wird so noch intensiver.
Fast schon wie am Mittelmeer
Neben dem Geschäft mit den wenigen Touristen hat er nicht viel zu tun. Ein Haus, ein bisschen Vieh, der Garten mit ein paar
Obstbäumen – das sei alles, was er zum Leben brauche. Aber für die jungen Leute sei das natürlich zu wenig. „Die müssen“,
sagt Toktokul, „in Bischkek (Anm.: der Hauptstadt), in Kasachstan oder Russland ihr Glück versuchen.“ Die meisten Urlauber
am Issyk Kul sind heutzutage Bürger dieser beiden Staaten.
„Das hat geografische Ursachen“, sagt Vitalij Berjosin. „Der Issyk Kul ist in Zentralasien, wo richtige Meere weit weg sind,
der Inbegriff für Strandurlaub“, sagt der 32-Jährige aus Almaty in Kasachstan. Der Unternehmer kommt jedes Jahr mit seiner
Frau hierher, meist in der Nachsaison ab September. Dann seien die Strände schon leer, aber man könne bei 20 Grad
Wassertemperatur noch baden gehen. „Wenn man dann den leicht salzigen Geschmack des Sees auf den Lippen spürt und eine
leichte Brise um die Nase weht“, so Vitalij scherzhaft, „fühlt man sich schon fast wie am Mittelmeer.“
Erschienen
in 'Die Presse', 01.Februar 2008
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